Die gesamte Schwierigkeit des Musikmachens

 

Sie zeigt der Dokumentarfilm „4“ über das Quatuor Ebène. Die Welt der sogenannten „Klassik“ ist in ihrer öffentlichen Darstellung durch und durch verlogen. Die Werbeabteilungen präsentieren die Klassik-Helden als Übermenschen, denen alles zufliegt, die ein glückliches und erfülltes Leben führen und nur abends im Konzert so etwas wie „Arbeit“ verrichten, für die Ihnen alle Menschen zu Füßen liegen.

 

Das ist mitnichten so, und der Film von Daniel Kutschinski ist eine der schönsten Möglichkeiten, sich davon zu überzeugen: Kutschinski begleitet das Streichquartett Quatuor Ebène vor allem auf einer Konzertreise in Italien. Er zeigt Proben und Konzerte, Reisen und Mahlzeiten - das lebenslange Lernen und die permanente Auseinandersetzung, die der Anspruch an sich selbst fordert. Was Kutschinski beobachten durfte, erinnert an die kaum fasslichen Selbstentblößungen von Politikern und Wirtschaftsmännern in den Filmen von Klaus Stern.

 

Zu Beginn treten die vier Musiker nach einem Konzert von der Bühne. Nicht etwa beglückt, froh, stolz oder selig, sondern erbost über das Verhalten einer „Tussi“ im Publikum, die ihr Bein über das ihres „Mackers“ gelegt hatte. Auch an anderen Stellen merkt man, dass man es mit Männern zu tun hat, die sich seit ihrer Studentenzeit in Boulogne-Billancourt kennen und immer noch in den besten Jahren sind. Man spricht dann auch mal vom „verfickten Dissonanzen-Quartett“ - und ist als Zuschauer verblüfft bis erheitert über den handfesten Umgang mit musikalischer Weltliteratur und froh, dergleichen auf französisch zu hören und nur als Untertitel zu lesen.

 

Am Ernst dieser Arbeit ändert das nichts. Zuweilen sitzen die vier fast ratlos zusammen, spielen etwas an, jeder macht einen Kommentar, die Situation wirkt chaotisch, dann wird plötzlich ein Akkord zerlegt, eine Artikulation oder Akzentuierung diskutiert, es wird gehorcht, wie das alles im Raum klingt. Und dann plötzlich sagt der Bratscher, das sei ihm alles zu festgelegt, selbst die kleinen Abweichungen seien durchgeplant. Mit einem Mal ist die ganze Schwierigkeit des Musikmachens erfasst: Es soll perfekt sein, aber zugleich spontan klingen – Quadratur des Kreises.

 

Bei so hohen Ansprüchen an sich selbst ist man nie fertig: Rührend, wie die Musiker ihrem Mentor, Prof. Eberhard Feltz Bartók vorspielen und sich eingestehen müssen, dass sie das Stück nicht verstehen und mit ihm nach und nach aus den gehäuften Dissonanzen Gestalten entwickeln. Und es geschieht, dass der Primgeiger mit seiner Leistung im Konzert unzufrieden ist und damit eine Auseinandersetzung lostritt, die das Ensemble an den Rand des Zusammenbruchs zu bringen scheint. Umso schöner, wie sich die Wogen wieder glätten während die vier nachts am Bühnenausgang zusammenstehen und rauchen.

 

Kutschinskis Beobachtungen sind intim und doch diskret. Mit am berührendsten sind die unausgesprochenen Dinge. Man sieht Eheringe und wie sie vor dem Auftritt abgestreift werden, um das Spiel zu erleichtern. Aber wo sind die Frauen und Kinder? Hier und da gibt es ein Telefonat – aber 120 Konzerte im Jahr mit Reisen drumherum machen Familie zu einem utopischen Unterfangen. Das Musikersein greift tiefer in die bürgerliche Lebenspraxis ein als die meisten anderen Berufe.

 

- Peter Uehling, Berliner Zeitung, Feuilleton, Samstag, 6. Mai 2017